Janine/ Mai 3, 2020/ Alle Artikel, Alter, Krankheit, Schreiben

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Um mich herum nur Virologen und Epidemiologen. Sind in eurem Bekanntenkreis auch nur noch Virologen und Epidemiologen? Nur noch medizinische Fachleute? Mit wem auch immer ich mich unterhalte, er oder sie haben einen ganz klaren Standpunkt zur Corona. Sie wissen ganz genau, woher Corona kommt, wie Corona wirkt und vor allem wie Corona bekämpft oder in Schach gehalten werden soll. Ich frage mich immer, woher sie das eigentlich wissen? Dann wird mir geantwortet, das habe doch Drosten gestern erklärt. Andere wiederum schwören auf Kekulé, wieder andere sind überzeugt davon, dass Streek  der einzige ist, der wirklich Bescheid weiß. Ich persönlich finde Professor Wieler sympathisch. Er sieht ganz gut aus und hat so eine vertrauensbildende Art und Weise, über den aktuellen Stand der Krise zu referieren. Aber der ist doch nur Veterinärmediziner, kommt dann sofort! Der kann doch gar nicht wissen, was mit Corona los ist. Wobei denjenigen, die das sagen, gar nicht bemerken, dass sie selbst Soziologen, Literaturwissenschaftler oder Jungunternehmerinnen oder Haufrauen sind und es sich selbst durchaus zutrauen, kompetent über Corona zu sprechen. 

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Nun man natürlich annehmen, dass sich Professor Wieler trotz seiner Ursprungsqualifikation inzwischen als Leiter des Robert-Koch-Institut ganz gut mit Epidemien auskennt. Aber darum geht es nicht, denn, wie eine Hausärztin aus München in einem engagierten Brief an Politiker/innen informiert, hat das Robert-Koch-Institut schon bei Sars versagt. Sofort google ich nach dem Versagen vom RKI bei Sars, finde aber nichts dazu. Aber vielleicht bin ich auch nur nicht intelligent genug, um richtig zu suchen. Dann gibt es noch die bislang eher unbekannten Virologen, die jetzt in den sozialen Medien, manchmal sogar im Fernsehen oder in den Printmedien erklären dürfen, dass alles, was die in den Medien bekannten Virologen oder Epidemiologen sagen, falsch ist. Corona sei gar kein Problem, es wird einfach maßlos übertrieben. Und dann erklären diese Aufklärer ausführlich, warum das alles falsch ist was. Auch diese Expert/innen haben begeisterte Anhänger/innen.

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Leider kann ich immer noch nicht beurteilen, was richtig ist. Ist Corona gefährlich? Führt es immer zum Tod? Oder führt Corona nur zum Tod, wenn man, wie ich bereits 75 Jahre alt ist? Schwierig wird es auch dadurch, dass sich auch die netten Virologen nicht ganz einig sind, Sie schätzen sowohl die Gefahr als auch die Maßnahmen ganz unterschiedlich ein. Auch bei den Politiker/innen herrscht keine Einigkeit. Wem soll ich nun glauben? Vor allem aber, was selten diskutiert wird: Ich finde bei Corona den Tod nicht das Schlimmste. Ich bin 75, also kann ich auch sterben. Es wäre schön, wenn mir noch ein paar mehr Monate bleiben als das halbe Jahr, das mir Herr Palmer zuerkennt, aber ganz so schlimm wäre das nicht. Das, wovor ich wirklich eine große Angst habe, ist die Behandlung im Krankenhaus. Wenn ich dann, wie Dr. Thöns aus Witten uns gerade erklärt hat, umgehend intubiert und künstlich beatmet werden sollte, dann löst das bei mir die absolute Panik aus. Wenn ich dabei sterbe, geht es mir noch gut. Wenn es aber zu bleibende Schäden kommt, und das scheint nicht unwahrscheinlich zu sein, dann gruselt es mich. Ausserdem: Wenn ich den vielen Berichten von Menschen, die von Ovid  genesen sind, Glauben schenken soll, dann müssen die Syptome – auch ohne Intubation – einfach entsetzlich sein. Das glaube ich gern, denn das Gefühl, zu ertrinken, stelle ich mir gar nicht schön vor.

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Da ich viel in den sozialen Medien unterwegs bin, kriege ich mit, wie sich die Menschen gegenseitig beharken, sich als unwissend, reaktionär und noch viel Schlimmeres beschimpfen. Auch ich habe mich aufgeregt über den zynischen Spruch von diesen Boris Palmer aus dem Süden Deutschlands. „Wir retten Leute, die in einem halben Jahr sowieso tot wären!“ Hat Boris Palmer eine Vorstellung von wertem Leben, das wir retten sollten und unwertem Leben, bei dem es sich nicht mehr lohnt? Hatten wir so etwas nicht schon einmal in Deutschland? Es gibt auch noch andere Sprüche, die mich als alte Frau wütend machen. Aber gerade lese ich einen schönen Artikel in der Zeit, in dem eine Journalistin darauf hinweist, dass jeder von uns das Recht hat, seine Meinung zu vertreten, auch wenn wir diese selber falsch oder sogar moralisch verwerflich finden. Das stimmt. Dazu fällt mir ein Spruch unseres Berliner Innensenators Geisel ein, der ansonsten wenig mit denkwürdigen Sprüchen auffällt. Als er kritisiert wurde, dass er bei einer schwierigen Auseinandersetzung um eine Immobilie in der Rigaerstraße in Berlin nicht sofort jede Demonstration verbieten ließ, antwortete er: „Wir müssen einfach anerkennen, dass das Grundgesetz auch für Arschlöcher gilt.“ Den Spruch finde ich immer noch gut und im Zusammenhang mit Boris Palmer ist er mir sofort eingefallen.

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Also muss ich gar nicht mehr überlegen, welchem Experten ich glauben soll. Ich muss vor allem vermeiden, krank zu werden. Daher werde ich brav alles tun, was unsere Kanzlerin und Herr Spahn vorschreiben, vielleicht sogar noch mehr. Ich habe ich beschlossen, mich nur noch damit zu beschäftigen, wie ich mich schützen kann. Ob Masken sinnvoll sind oder nicht, überlasse ich den Fachleuten. Ich trage eine. Ob es sinnvoll ist, sich hauptsächlich in der Wohnung aufzuhalten oder nicht, ich bleibe zu Hause. Und wenn ich mal Kontakt in einem Geschäft oder an der Tankstelle mit anderen Menschen haben muss, dann bleibe ich – natürlich mit Maske – ganz ganz weit entfernt von den Anderen stehen. Ich weiß nicht ob das richtig ist, aber ich will auf Nummer sicher gehen. So ähnlich wie meine Mutter, die oft mit mir in den Kölner Dom ging, als ich noch klein war, wo wir dann gemeinsam Kerzen für alle unsere Lieben angesteckt haben. „Aber wir sind doch alle nicht mehr in der Kirche, Mami!“ sagte ich. „Und du glaubst doch auch nicht an Gott!“  Nein“, sagte sie. „Aber sicher ist sicher, man kann ja nie wissen.“ Das finde ich eine gute Herangehensweise.

Mein Corona-Tagebuch: Ein Land voller Epidemiologen!

Ich bleibe zu Hause, sitze auf meiner herrlichen Terrasse, streichele meine Blümchen oder meine dicken Kater. Mir geht es gut, ich bin privilegiert. Ich habe nette Menschen gefunden, die für mich einkaufen, habe nette Nachbarn, mit denen wir ab und zu nachmittags oder abends über den Flur Kaffee trinken und plaudern.
Gleichzeitig kann ich natürlich verstehen, dass es für junge Menschen schwierig sein kann, so eingesperrt zu leben. Vor allem aber tun mir die Menschen leid, die wegen dieser Krise entweder überhaupt kein Geld mehr haben oder nur sehr wenig bekommen, und damit über die Runden kommen müssen. Oder die Geschäftsleute, die bald Konkurs anmelden müssen. Oder die jungen Familien oder allein erziehenden Mütter, die kaum wissen, wie sie ihren Alltag mit lebhaften Kindern in einer kleinen Wohnung auf die Reihe kriegen soll. Und noch mehr bedaure und bewundere ich Ärzte, Pflegende, Putzfrauen, Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und alle anderen Menschen, die täglich kranke Menschen transportieren oder retten müssen und die dabei selbst immer in der Gefahr stehen, sich anzustecken.

Schon für sie finde ich, sollten wir die Restriktionen in der Corona Krise ernstnehmen, auch wenn sie uns lästig sind. Denn für sie ist in ihrem Arbeitsalltag jeden Tag Krise. Das einzige was wir für Sie tun können, ist einfach zu Hause zu bleiben.

 

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