Janine/ März 25, 2020/ Alle Artikel, Alter, Krankheit, Schreiben

Mein Corona-Tagebuch: Es sterben ja nur alte Leute. Nur?

Überall erwähnen Politiker*innen und Medienleute, dass ja nur alte Leute an Corona sterben. Nur? Ist das für alle anderen beruhigend? Muss man dann weniger für sie tun? Liegen die nur  auf unseren überfüllten und überforderten Stationen herum und verbrauchen gesundheitliche Ressourcen? In den USA hat schon ein 69jähriger Politiker gefordert, dass man die Alten doch sterben lassen könne. Ja, er hat es sogar als patriotische Pflicht alter Menschen angesehen,  ihr Leben zugunsten ihre Kinder und Enkelkinder zu beenden oder zumindest die Gefahr auf sich nehmen, an Corona zu sterben. Diese Einstellung mach mir mehr Angst als Corona selbst. Führt eine solche gesundheitliche Krise zu noch mehr Endsolidarisierung, wie wir heute schon in anderen Bereichen sehen? Ich erinnere nur an den Junge Union Vorsitzenden Mißfelder, der 2003 forderte, dass Menschen über 70 keine künstliche Hüftgelenke mehr bekommen sollten. „Früher“, meinte der forsche junge Mann, „früher seien die Leute doch auch auf Krücken gegangen.“

Mein Corona-Tagebuch: Es sterben ja nur alte Leute. Nur?

Aber unabhängig von der zynischen Betrachtung scheint es auch nicht zu stimmen, dass nur alte Menschen sterben. Auch jüngere oder mittelalterliche Menschen können an Corona erkranken und es kann sehr schwere Verläufe bis zum Tod geben. Das wäre dann richtig schlimm, denn natürlich möchte niemand, das junge Menschen sterben. Ist es weniger bedauerlich, wenn wir Alten sterben? Außerdem stimmen auch solche unsensiblen Bemerkungen wie „Die alten Menschen sind ja ohnehin am Ende ihres Lebens angekommen“ nicht. Was nicht ganz stimmt, denn viele Menschen werden heute deutlich älter. Mit 70 ist man noch nicht am Ende des Lebens angekommen. Sage ich mit 75!

Mein Corona-Tagebuch: Es sterben ja nur alte Leute. Nur?

Diese Vorstellung, dass es ja nichts macht, wenn alte Menschen etwas früher sterben, hat negative Effekte für alle Menschen. Dr. Tedros Adhanom Ghebreyyesus, der Direktor der WHO wies darauf hin, dass Corona in vielen Ländern nicht frühzeitig bekämpft wurde, weil man eine tödliche Gefahr nur für alte Menschen sah und man wollte für Alte nicht zu viele wertvolle medizinische Ressourcen verbrauchen. Alles das zeigt, wie tiefverwurzelt Altersdiskriminierung in vielen Ländern ist: Und richtig schlimm ist es, dass alte Menschen selbst auch diese Meinung vertreten. Wenn es schon als patriotische Pflicht angesehen wird, sich eine todbringende Krankheit zuzuziehen, um die jungen Menschen zu retten, dann leben wir in einer Gesellschaft, in der auch im Gesundheitsbereich nur nach ökonomistischen Prinzipien verfahren wird. Das finde ich gar nicht schön.

Mein Corona-Tagebuch: Es sterben ja nur alte Leute. Nur?

Auch in deutschen sozialen Medien konnte man lesen, dass es ja nichts mache, wenn alte Leute Serben, weil sie ja ohnehin das Klima versaut hätten. Die New York Times berichtet, dass alte Menschen verängstigt in ihre Autos vor einem Supermarkt säßen und eine andere Kundin baten, für sie einzukaufen, weil sie sich nicht in den Supermarkt trauen. In Spanien sterben alle Bewohner eines Altersheims an Corona, weil dort zu wenig Pflegende waren. 

Über mein Erfahrung mit Altersdiskriminierung habe ich auch in meinem Buch „Wer früher plant, ist nicht gleich tot“ geschrieben. Kann es sein, das in dieser weltweiten Krise das Schlechteste an vielen Menschen hervorkommt? Nein, Gottseindank gibt es viele Menschen, auch in meiner Umgebung, die uns alten Menschen helfen, für sie einkaufen oder immer mal nachfragen, wie es uns denn so geht. Aber diesen Zynismus, dass wir Alten überflüssig sind, dass für uns doch keine wertvollen Ressourcen aufgebraucht werden sollten, gibt es eben auch.

So, für heute zornige Grüße. Bis bald.

Und wenn ihr lachen wollt, dann lest doch einfach mein neues Buch:

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