Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Allmählich geht mir die Quarantänezeit auf die Nerven. Ich kann mich eigentlich nicht
beklagen. Ich bin auch sonst viel zu Hause, mache mit Sicherheit draußen keinen Sport
und gehe auch abends selten weg. Es wird auch eingekauft für mich, was ich den EinkäuferInnen hoch anrechne. Aber jetzt kommt allmählich so der Wunsch hoch, doch auch mal selbst einkaufen zu gehen. Ich werde gut versorgt mit Basislebensmitteln: Milch, Eier, Salat, Aufschnitt, Klopapier und Haushaltsrollen. Aber jetzt hätte ich einfach so unheimliche Lust auf frischen Spinat, aus dem ich einen Salat machen könnte. Spinat-Salat mit kleinen Orangenstückchen und, wenn man ihn ganz schön machen will, natürlich noch Pinien- und Granatapfelkerne dazu. Ach ja, und bitte Himbeeressig. Aber alles das habe ich nicht zu Hause und ich möchte meine
EinkäuferInnen nicht damit belasten, komplizierte Dinge für mich einkaufen müssen, die sie erst suchen müssen. Schön wäre auch noch so ein richtiger sehr reifer französische Ziegen-Camembert. Oder frische Feigen. Ist jetzt eigentlich Feigenzeit? Oder Miesmuscheln in Weisswein wären auch schön. Herrlich!
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Das alles geht aber im Moment nicht. Vor ein paar Tagen war ich schon soweit, dass ich entweder mit Rollator oder auf meinem neuen E-Mobil zum nächsten Edeka rolle und
dort selbst schnell Sachen aussuche. Aber dann habe ich wieder so viele Berichte gehört und gelesen, wie gefährlich es ist gerade für alte Leute wie mich ist, weil sich nicht alle daran halten, eine Maske zu tragen und, selbst wenn sie es tun, sich dann ganz dicht zu einem stellen, wenn man vor der Käsetheke steht. Beim letzten Einkauf vor Wochen habe dann der Dame gesagt, ob sie nicht ein bisschen weiter weg gehen könne, aber sie meinte, sie wollte doch nur gerade mal diesen Käse, vor dem ich wohl stehe, haben. Daraufhin gehe ich ein Stück zur Seite und warte, bis sie ihren Käse gekauft hat. Aber kaum stehe ich wieder an der
Käsetheke vor dem Manchego, den ich unbedingt probieren will, stellt sich wieder ein anderer Herr dicht zu mir, der wahrscheinlich auch nur gerade diesen
besonderen Käse haben möchte, vor dem ich stehe. Jetzt gehe nicht mehr einkaufen.
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Nun wird uns ja immer gesagt, dass es ganz wichtig ist, sich in dieser Zeit sich bestimmte Dinge vorzunehmen. Struktur zu schaffen. Morgens immer zum gleichen Zeitpunkt aufzustehen, sich zu duschen, die Haare zu föhnen und ein leichtes Inhouse-Makeup aufzulegen. Auf jeden Fall habe ich das amerikanischen
Influencerinnen entnommen, aber dazu komme ich noch. Man solle sich ein Hobby suchen oder irgendetwas tun, wozu man sonst nie kommt. Ich habe es versucht, aber nicht das Richtige gefunden. Malen ist einfach nicht meins, selbst nach Zahlen plane könnte ich als Kind nicht gut. Im Handarbeitsunterricht habe ich vor Frust geheult und im Sportunterricht war ich immer die, die als letzte stehen blieb, wenn die Mannschaften zum Völkerball ausgesucht wurden. Stricken kann ich auch nicht und die ganze Wohnung aufräumen und gründlich putzen? Nein, dazu habe ich keine Lust. Ein neues Buch will ich jetzt auch nicht anfangen weil ich das andere gerade beendet habe und bei mir eine neue Buchidee immer erst reifen muss. Wie wäre es mit sozialem Engagement? Aber ich kann keine Großküche für Menschen, die jetzt in Krankenhäusern arbeiten, organisieren. Obwohl ich die Idee schön fände. Auf die Kinder von systemrelevanten ArbeiterInnen aufpassen, wäre auch nicht das Richtige. Also was tun?
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Ich langweile mich auch, weil natürlich alle Lesungen und Vorträge abgesagt wurden. Klar, Corona eben. Gut, September, Oktober, November gibt es noch ein paar
Veranstaltungen, aber ich bin nicht sicher, ob die auch stattfinden werden, und wenn ja, ob ich mich dorthin begeben möchte. Zugfahrt, Raum mit vielen Menschen, will ich das im Moment? Ich lese sehr viel, fast jeden Tag ein neues Buch. Aber irgendwann möchte ich auch mal etwas Produktives tun. Und da ich sehr viel im Internet bin, habe ich jetzt voller Freude festgestellt, dass es etwas gibt, was mir sehr viel Spaß macht. Ich werde Videos drehen. Ich finde das toll. Ich habe mir jetzt ganz viele Videos angeschaut. Nein ich will keine Katzen-Videos drehen und auch nicht Videos, bei denen ich Gartenarbeit mache oder koche. Das würde ich zwar gerne, also vor allen Dingen Koch-Videos, aber soweit bin ich jetzt noch nicht, dass ich mir eine Video-Kamera in der kleinen Küche aufstellen kann,
und mich beim Kochen zu filmen. Vor allen Dingen sieht meine Küche auch nicht so aus, wie diese tollen Küchen bei Kochvideos aussehen. Glänzende weiße oder schwarze Flächen (handbearbeiteter Schiefer aus der Eifel?) und dazu viel glänzenden Chrom. Nein, so eine Küche hat meine Wohnung nicht. Ausserdem würde sie auch niemals so schön aufgeräumt aussehen, selbst wenn Schiefer und Chrom in meiner Küche dominieren würden. Mein Influencerin-Vorbild ist Miley Cyrus. Sie hat auf Twitter, Instagram (oder auf TikTok?), egal, über 40 Millionen Follower! Das schaffe ich nicht? Vielleicht, aber man muss sich große Ziele setzen, sonst wird das nichts.
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Ausserdem habe ich natürlich auch niemanden, der mich filmt, damit es auch eine wirklich schöne Sendung wird. Nein, ich werde es ganz einfach machen, was ich am liebsten mache: Reden. Ich werde in den Videos etwas erzählen, Vorträge halten oder
aus meinen unterschiedlichen Büchern vorlesen. Immer zu wirklich wichtigen Themen, was sonst? Aber nun habe ich festgestellt, dass es von dem Vorsatz, Videos zu drehen bis zur Tat noch ein weiter Weg ist. Denn jetzt kommt ja erst einmal die Frage auf mich zu, welche welche Technik ich dazu brauche. Auch dazu gehe ich wieder auf youtube und suche ein Video, in dem mir erklärt wird, welche Technik man für Videos braucht. Man könnte glauben, dass diese Frage ganz einfach zu beantworten ist, aber dem ist nicht so. Der erste junge Mann, der mir das erzählen will, beginnt schon mit einem Intro, das ich ganz scheußlich finde. „Hallihallo, hier ist der Thomas, und ich erzähle euch heute mal kurz, mit welcher technischen Ausrüstung ihr total geile Videos drehen könnt.“ Sowas geht mir
wahnsinnig auf die Nerven. Aber ich will ja etwas von ihm lernen und höre erst mal weiter zu. Er beginnt erst mal mit der Kamera. „Also, Leute“, sagt Thomas, „Man muss für den Anfang noch nicht so eine wahnsinnig tolle Kamera kaufen. Braucht man nicht, wenn man damit beginnt. Also, meine Lieben, wenn ihr so eine ganz einfache Kamera für ungefähr 500 € habt, dann reicht das für den Anfang. Später könnt ihr dann auch mal was richtig Gutes kaufen. Aber wichtig ist, dass ihr dann auch für die günstige Kamera ein wirklich gutes Objektiv kauft. Das braucht man. Und das muss mindestens so viel kosten, wie die Kamera, also noch mal mindestens 500 €. Es hat überhaupt keinen Zweck, dass ihr euch eine Kamera für 1500 € kauft und dann nur ein mieses Objektiv für drei oder 400 €, davon habt ihr nichts.“ An dem Punkt habe ich mich ausgeklinkt, weil ich nicht damit beginnen wollte, mir eine miese kleine Kamera für 500 € zu kaufen. Außerdem habe ich eine ganz schöne Kamera. Die hat vor paar Jahren nur 350 € gekostet und ist von Canon. Ich finde sie immer noch sehr schön und sie macht wunderschöne Blumenbilder.
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Also suche ich weiter. Eins habe ich schon gemerkt bei der Suche. Ich werde keines meiner künftigen Videos mit „Hallihallo“ oder mit „Hi, ihr Süßen. Ich freue mich, dass ihr heute wieder dabei seid“ beginnen, das geht mir auf den Keks. Vor allem, wenn das in so einer so künstlich holen Stimme gerufen wird. Nach längerem Suchen finde ich eine nette junge Frau, die sehr ausführlich erzählt, welche Technik man
braucht. Gut ist, dass sie bei jedem Produkt auch gleich auf die Seite von Amazon zoomt, so dass ich gleich sehen kann, was ich kaufen muss. Sie warnt sogar vor zu teuren Käufen und zeigt Mikros oder Kameras, die preislich ok sind. Das wirklich sehr gute und teure Mikro empfiehlt sie sogar nicht, weil das Probleme mit dem Mac macht. Das macht sie mir sympathisch, denn auch ich habe nur Macs und möchte mich gar nicht erst in die PC-Welt einarbeiten. Aber was mir bei ihr doch ein bisschen auf die Nerven geht ist, dass sie sehr langsam und sehr, sehr ausführlich über sich und alles andere redet. Sie ist Facebookmarketingexpertin. Toll. Ich hätte das alles aber auch verstanden, wenn sie schneller geredet hätte. Aber das ist ja alles nicht schlechte, denn so merke ich gleich, was ich nicht tun sollte. Wenn ich später aus einem meiner Bücher vorlese, dann wollen die ZuhörerInnen sicher nicht erst meinen Lebensweg erzählt bekommen. Obwohl der sicher abwechslungsreicher war, als der der jungen Influencerin. Aber gut, sie hat ja noch Zeit.
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Aber dennoch bin ich insgesamt von den vielen Erklärungen begeistert, weil ich
furchtbar gerne Technikzeugs kaufe und auch schon intensiv im Internet nach schönen Mikros und Kameras und Stativen geschaut habe. Aber nun kommt Katja Kettler ins Spiel. Katja Kettler ist eine begnadete Musikerin, sehr modernes Zeugs, sie macht auch Theater und gibt außerdem wunderbare Seminare. Jetzt online für ihre Studenten. Wir mögen uns und tauschen uns über Facebook aber auch von Mensch zu Mensch aus. Ich muss sie überhaupt mal wieder zum Essen einladen. Ach so, Corona! Ich habe sie sofort angerufen und ihr meine neuen Erkenntnisse weitergegeben und sie gefragt, was davon ich denn bloß kaufen soll. Und da kam die große Enttäuschung. „Aber Janine“, sag Katja erbarmungslos, „Du hast doch einen Mac. Da ist doch ein sehr ordentliches Mikro dran und eine gute Kamera. Das hab ich doch auch und damit mache ich gute Videos.“ So ist das, wenn man nur mit dem Mac arbeitet. Wusstet ihr, dass es Laptops gibt (von
anderen obskuren Firmen), in denen keine Kamera eingebaut ist? Das hat mir neulich jemand erzählt. Ich konnte es gar nicht glauben. Schade, dann muss ich jetzt erst mal nichts Neues kaufen. Schade. Aber anderseits ist es auch wieder ganz gut, wenn ich etwas spare.
Mein Corona-Tagebuch: Oma wird Influencerin
Aber jetzt kommt das nächste Thema, das ich noch durcharbeiten muss, bevor ich
endgültig eine erfolgreiche Influencerin werde. In welchem Winkel meine Wohnung sehe ich am besten aus? Was ziehe ich an? Wie style ich meine Frisur und, last but not least, wie schminke ich mich? Ganz wichtig für meine Zukunft als Influencerin. Und da habe ich auch schon interessante Einsichten gewonnen.
Aber das kommt dann erst ist im nächsten Bericht. Also, auf bald.