Mein Corona-Tagebuch: Wir Alten sind nicht behindert, wir werden behindert!
Ich fand den Spruch aus der Behindertenszene „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“
immer ein wenig übertrieben. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, wie kann er dann sagen, er sei nicht behindert, sondern er würde behindert? Das habe ich natürlich nie laut gesagt, denn in der Szene ist man sensibel und meine Zweifel wären mindestens als Mikroaggressionen verstanden worden. Liebe Menschen, die ihr behindert werdet, ich bitte euch inständig um Verzeihung. Ihr habt recht, ich hatte unrecht. Ich wusste nicht, wovon ihr redet.
Aber jetzt weiß ich es, seitdem ich mich mit Fritzstock oder gar mit Rollator durch die Stadt bewege und ebenfalls behindert werde. Jeder Weg wird zum Hindernislauf, kaum ein Geschäft, eine Post oder ein Restaurant, für das ich keine Hürden überwinden
muss. Ich wusste bislang gar nicht, wie viele Geschäfte nur über zwei oder drei Stufen zu betreten sind. Wie schaffe ich das mit Rollator, vor allem, wenn dann auch noch die Tür nach außen aufgeht? Bei der Post gibt es einen Behindertenknopf, den ich drücken könnte. Aber bei der Schnelligkeit, in der Postbeamte ihre Aktivitäten abwickeln, kann das dauern. Die Stadtbibliothek hat auf mein Drängen hin ein Schild an der sehr schwergängigen Eingangstür angebracht, damit wir Alten anrufen können und ein Mitarbeiter kommt, um uns zu helfen.
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Auch Zebrastreifen mit oder ohne Ampel sind Gefahrenherde. Zunächst stehe ich ewig an der Ampel, weil natürlich die längere Grünphase für Autos vorgesehen ist. Das Stehen tut weh, weil das

Kartoffelrose mit Hummel
Fußgelenk bei jeder Belastung schmerzt. Kaum setze ich mich bei Grün langsam in Bewegung – schnell geht es bei mir nicht mehr –, ist die Ampel bereits vor Erreichen der anderen Straßenseite wieder rot. Dort muss ich kurz stehenbleiben, um auf den kleinen Hebel zu treten, der den Rollator vorne hochhebt, sodass ich die Vorderräder auf den erhöhten Bürgersteig setzen kann. Diese Prozedur geht vor allem Fahrradfahrern, die auf den Wegen parallel zu Straße vorbeisausen – selbstverständlich auch, wenn die Ampel für sie auf rot steht – , erkennbar auf die Nerven. Weil sie mich nicht nur anschreien „Hau ab!“, sondern sich mir auch mit hohem Tempo nähern, werde ich äußerst nervös, wenn ich den Übergang zum Bürgersteig meistern muss. Und dass ich im Recht wäre, wenn sie mich umfahren, nützt mir nichts. Denn der gefürchtete Oberschenkelhalsbruch wäre mir sicher. Auf Reisen fürchte ich mich vor schwergängigen Hoteltüren.

Lavendel
Versuchen Sie mal, sich selbst, den Fritzstock und einen Rollkoffer durch eine Hoteltür zu zwängen, die nach außen aufgeht, und gleichzeitig noch die Karte zum Öffnen der Zimmertür parat zu halten. Es gibt zudem erstaunlich viele Arztpraxen ohne Fahrstuhl. Ich habe es eingangs bereits erwähnt: Das ist besonders erstaunlich bei Orthopäden, bei denen öfter häufig gehbehinderte Patientinnen Hilfe suchen.
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Auch die Reiseplanung wird zeitaufwendig. Nicht alle Flughäfen haben einen gesonderten Schalter für mobilitätseingeschränkte Reisende, wie das politisch korrekt heißt. Vor allem aber sind nicht alle Mitarbeiter freundlich, wenn sich ein mobilitätseingeschränkter Passagier nähert. Nur in Bangkok und Chiang Mai kümmern sich freundliche Mitarbeiterinnen schnell und höflich um uns Behinderte, in anderen Flughäfen habe ich es deutlich komplizierter erlebt. Am Flughafen Tegel in Berlin weiß niemand Bescheid, selbst wenn man zwei Tage vorher noch einmal angerufen hat, um alles zu klären. Aber es gibt auch Vorteile für uns behinderte Reisende. Es ist die größte Freude für mich, im Rollstuhl an kilometerlangen Schlangen wartender Fluggäste vorbei zur Taschen- und Personenkontrolle vorbeigerollt und von den ansonsten eher ruppigen Servicemitarbeitern besonders freundlich behandelt zu werden. Jeder will mir helfen, jeder hält mir die Hand hin oder greift fürsorglich unter meinen Ellenbogen. Aber auch da kann es zu Überraschungen kommen. Als ich vor einiger Zeit etwas wackelig mit meinem Fritzstock durch die Kontrolle ging, forderte eine fürsorgliche Mitarbeiterin einen anderen Passagier auf, seinen

Weisse Kartoffelrose
Rucksack vom Stuhl zu nehmen. „Die alte Dame muss sich hier hinsetzen.“ Mein erster Impuls war, selbst beiseite zu treten, um der alten Dame Platz zu machen. Aber, man ahnt es bereits, ich selbst war die alte Dame. Nach dem ersten kurzen Schock habe ich mich doch sehr zufrieden hingesetzt.
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Auch die Vorbereitung einer Bahnfahrt ist langwieriger als früher, weil ich eine Mobilitätshilfe beantragen muss. Die Dame des Mobilitätsservices muss bei jedem Bahnhof und bei jedem Umsteigen gesondert klären, ob sie dort eine Mobilitätshilfe haben und auch noch einen bahneigenen Rollstuhl. Die Bestätigung bestätigt sich dann allerdings leider nicht immer. Am Ankunftsbahnhof weiß mitunter niemand Bescheid oder es gibt weit und breit keinen Rollstuhl. Es bleibt spannend. Aber an kleinen Bahnhöfen gibt es dafür oft ein anderes Highlight: Bei der Bahnhofsmission werde ich zusammen mit anderen Obdachlosen mit einer warmen Tasse Kaffee versorgt und anschließend freundlich zum Zugabteil geführt oder gerollt. Man lernt immer neue und oft nette Menschen kennen.
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Geht es Ihnen auch so, dass es schwerfällt, lange zu stehen? Finden Sie irgendwo in Läden oder bei der Post, in einer Bank oder beim Arzt Sitzplätze, die Sie nutzen können, während sie warten müssen? Ich nicht. Beim Arzt muss man lange an der Theke stehen, bis man angesprochen wird. Das verstehe ich, aber bei meinem Arzt in einer sehr großen ud schicken Praxis habe ich mal eine kleine – modische – Bank dort angeregt. Nein, es ist nichts passiert. Wenn ich darauf hinweise, dass ich nicht stehen kann, dann wird mir empfohlen, mich doch so lange ins Wartezimmer zu setzen, Omanwürde mich aufrufen. Spätestens nach einer halben Stunden hat man mich vergessen. ein ich dann wieder nach vorne gehe, heißt es „Ja, wir können doch nicht wissen, dass Sie dort sitzen. Da müssen Sie doch schon zu uns nach vorne kommen.“ Warum gibt es nicht Schemelchen in großen Geschäften, auf denen sich alte Menschen kurz ausruhen können? Warum nicht in großen Kaufhäusern? Will man einfach nicht daran denkt. Wir Alten sind unsichtbar.
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Einen Ort gibt es aber, an dem das Fahren eines Rollators deutliche Vorteile bringt: der Discounter. Zunächst hat er einen großen Parkplatz, was die Anfahrt deutlich erleichtert. Es würde mir jetzt bestimmt der ein oder andere jugendliche Klimaschützer sagen, ich solle doch das Auto zu Hause lassen und nicht dem riesigen Discounter zu mehr Umsatz verhelfen. Es gäbe so viele alternative kleine Läden, oft auch verpackungsfrei, die solle ich unterstützen. Grundsätzlich hat er ja recht. Aber dann soll mir bitte der jugendliche Klimaaktivist auch sagen, wie ich mit Rollator und Bus zu diesen kleinen Alternativläden komme und ich meine Rollator-Tasche, die nicht sehr groß ist, so vollpacken kann, dass ich nicht am nächsten Tag gleich wieder dorthin muss.
Zurück zum Discounter, der sich als Segen für Behinderte erweist. Die Automatiktüren erleichtern den Zugang. Als ich anfangs noch etwas unsicher mit dem Rollator war, habe ich versehentlich ab und zu andere Käufer angestoßen. Diese drehten sich dann mit wütendem Gesicht um, das sich sofort in ein mitleidiges Gesicht umwandelte. „Oh, entschuldigen Sie bitte, ich stand im Weg. Kann ich Ihnen helfen? Soll ich Ihnen etwas anreichen? Die Tomaten? Können Sie

Schalotten
den Preis noch lesen? Ich hole Ihnen auch gern etwas aus den oberen Regalen! Brauchen Sie sonst noch Hilfe beim Einkaufen? Soll ich Sie begleiten?“ Mit tapferem Lächeln sage ich jedes Mal leise: „Es geht schon, ganz herzlichen Dank“ und rolle fröhlich weiter. Der Rollator erweist sich auch als Vorteil, wenn ich am Weihnachtstag an kilometerlangen Schlangen vorbei nach vorne rolle, ein leidendes Gesicht mache und dem Menschen, der unmittelbar an der Kasse steht, zuhauche: „ Es ist sehr unhöflich von mir, aber mir geht es nicht so gut und ich kann auch nicht lange stehen, ob Sie mich …?“ „Aber natürlich, soll ich Sie stützen oder setzen Sie sich doch solange, ich reiche Ihnen Ihre Einkäufe an.“
Auch Autofahrer sind hilfsbereit. Erstaunlicherweise sind sie deutlich freundlicher als Fahrradfahrer. Wenn ich mit dem Rollator und zwei an die Lenkergriffe gehängten Einkaufstaschen versuche, die Straße zu überqueren – ohne Zebrastreifen –, halten fast alle Autos umgehend an.
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Dann gibt es noch einen großen Vorteil für manche Behinderte: Wir können einen Euro-WC-Schlüssel für uns beantragen, mit dem wir auf der Autobahn Zugang zu jedem Behinderten-WC haben. Das ist nicht schlecht, denn in Deutschland gibt es circa neuntausend Behinderten-WCs mit einem einheitlichen Schlüsselsystem, das kann uns das Leben manchmal sehr erleichtern.
Meine Empfehlung: Nach kurzer Zeit haben Sie den Schock überwunden, in der Öffentlichkeit mit Fritzstock, Rollator oder bald auch mit E-Mobil gesehen zu werden. Auch wenn das ein bisschen kränkend ist, letztlich interessiert sich niemand dafür. Nutzen Sie die Vorteile, die wir behinderten Alten haben. Seien Sie rücksichtslos, fordern sie Verständnis und gern auch Mitleid von den gesunden Menschen. Rempeln Sie die neuen Elektrokleinstfahrzeuge mit ihrem stabilen E-Mobil an. Wenn es Ihnen peinlich ist, denken Sie an Henriettes Bemerkung, als ich etwas beleidigt darauf hinwies, dass alle Menschen mich anstarren würden. „Klar“, sagte sie. „Klar starren die. Die denken sich, was für eine gut aussehende und schön angezogene alte Dame mit Rollator!“ So sehe ich das jetzt einfach auch.
Wir sollten aggressiv altern und uns nichts gefallen lassen!
Bis bald!