Janine/ Mai 31, 2021/ Alle Artikel, Alter, Schreiben

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Sind wir das? Da werden mir jetzt Viele widersprechen. Denken Sie doch nur an die armen alten 90jährigen, werden sie sagen, die vereinsamt in ihren Zimmern saßen oder sitzen und keinen Besuch von süßen kleinen Enkelchen haben dürfen. Oder die ebenso vereinsamt in ihren kleinen Wohnungen sitzen und keine ihrer ebenso alten Freundinnen zum Plausch bei Kaffee und Streuselkuchen haben dürfen! Aber ganz an die denke ich ja. Die saßen auch vorher relativ vereinsamt in ihren Pflegeheimen oder auch in ihren Wohnungen. Das Gehen wurde immer schwieriger, die Rollatoren der Krankenkasse zu schwer und schlecht zusammenzufalten, die Brille für die Weitsicht nicht mehr ganz passend, aber die Kasse zahlt keine, neue passenden Brille. 
Der Unterschied war nur, dass vor der Pandemie niemand darüber gesprochen hat. Es hat einfach niemanden interessiert.

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Allenfalls wurden wir beschuldigt, den jungen Menschen durch zu hohe Rentenzahlungen ihre Zukunft kaputt zu machen. Oder dass wir, weil wir einfach immer weiterleben, das Erbe durch Eigenbeiträge zur Heimunterbringung und Pflege belasten. Dass wir nur an uns denken und überhaupt kein Verständnis für junge Menschen haben, die einen sauberen Planeten haben wollen und keine armen Tiere, die in Käfigen oder zu engen Ställen gequält werden. Denn wir Alten sind oder waren die größten Umweltsäue, die es gibt.
Jetzt in der Pandemie wurde das  anders. Wir tun vielen Menschen leid. Wir werden herangezogen, auch von Querdenker*innen, wenn auf die fatalen Entscheidungen der Politik hingewiesen wird, die uns arme, alte Menschen einfach vergessen haben. 

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Momentan gibt es allerdings eine harte Konkurrenz. Wir tun nicht mehr allen leid, sondern jetzt sind die Kinderchen dran. Sie leiden extrem unter dem Homeschooling, den Internet unfähigen Lehrer*innen, gestressten Eltern, zu kleinen Wohnungen und überhaupt. Das ist schlimmer als bei uns Alten: Wir sterben ohnehin bald, wie es Boris Palmer aus Tübingen so realistisch gesehen hat, während die Kinderchen unsere Zukunft sind. 
Jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen. Wir wollen doch weiter im Fokus von Medien bleiben, wir wollen, dass Städte sich etwas für uns einfallen lassen, dass es Konferenzen gibt, in denen wundervolle Konzepte über die Integration von alten Menschen in ein gemütliches Wohnumfeld dargestellt werden. Bitte macht euch weiter Gedanken um uns arme Alte

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Wir könnten zum Beispiel darauf hinweisen, dass Kinder, die viel mit ihren Großeltern zu tun haben, klüger und später im Leben erfolgreicher sind. Habe ich neulich in irgendeiner Studie gelesen. Oder dass die liebevollen Berührungen von Enkelchen und Großeltern auch langfristige extrem positive Auswirkungen auf das Leben der Enkelchen haben werden. Gibt es bestimmt auch Studien dazu. Auch das über Jahre angesammelte Wissen von uns Alten würde verloren gehen, wenn man uns nicht ausreichend pflegt und hegt. Das ist eine wichtiger Punkt, weshalb es auch inzwischen im Internet so viele Seiten gibt, in denen Rezepte nach Großmutter Art angepriesen werden. Obwohl: Ich weiß ja nicht, ob mehlige Kartoffeln mit brauner Sauce unbedingt von Generation zu Generation  weitergegeben werden müssen.

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Wir können so viel, z.B. Referate schreiben für unsere Enkel, damit die Schulnoten für eine exzellente Karriere bei einem Top-Anwalt oder in einer Top-Unternehmensberatung ausreichen. Wir können Mathe oder Englisch erklären. Es soll sogar alte Menschen geben, die sich in Physik auskennen! Ich erinnere mich noch mit Grausen, als ich ein Referat über Bahnwärter Thiel von Hauptmann für eine meiner Töchter schreiben musste.
Nein, Boris Palmer, Sie sehen das zu eng. Es ist eben nicht egal, ob wir Alten ohnehin bald sterben. Es geht ein enormes Wissen und vor allem eine unendliche Weisheit verloren, wenn der Pandemie-bedingte Fokus nicht mehr auf uns armen Alten liegt. Wir Altern sind doch alle weise, oder?

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie? 

Also, meine lieben Gleichaltrigen Ü70, Ü80 und Ü90: Jammert nicht darüber, dass wir in der Pandemie die größten Lasten zu tragen haben oder anders gesagt, dass es oft einfach langweilig ist ohne ein nettes Restaurant, viel guten Wein, Spaghetti aglio olio und den Charme eines glutäugigen, 50 Jahre jüngeren italienischen, spanischen, indischen oder auch albanischen Kellners!  Das sollten wir aber nicht sagen, denn das klingt egoistisch. Und egoistische alte Menschen mag niemand.
Stattdessen sollten wir darauf hinweisen, welche enormen Verluste für eine Gesellschaft entstehen würden, wenn wir nicht unsere Liebesfähigkeit, unsere Geduld, unsere Weisheit, unser fachliches und soziales Wissen in diese Gesellschaft einbringen könnten. Das zieht.

Sind wir Alten die Gewinner*innen der Pandemie?

Was mich betrifft hat die Pandemie mir keine großen Nachteile gebracht. Bitte nicht weitersagen! Wir wollen doch bemitleidet werden. Ich bin gern allein, liebe das Internet und Zoom-Plaudereien. Der große Vorteil dabei ist, dass ich die Wohnung nicht aufräumen muss und auch selbst nur das Gesicht ein bisschen nett machen muss, wenn ich mit anderen Menschen ZOOM-mäßig zusammenkomme. Wenn ich schon im Heim wäre, fände ich es herrlich, wenn mir das Essen aufs Zimmer gebracht würde und ich mich nicht mit Menschen unterhalten müsste, die sich für ganz andere Dinge als ich interessieren. Viele nette Menschen kaufen für mich ein, herrlich, und meine Kinder erkundigen sich liebevoll, wie es mir denn so geht. Haben die auch nicht immer getan. Ich muss nicht mehr lange Strecken reisen und auf zugigen Bahnsteigen umsteigen, wenn ich irgendwo eine Vortrag halte oder etwas aus meinen Büchern lese. Nein, alle stellen sich problemlos auf Online-Veranstaltungen ein. Von mir aus kann das so bleiben.

So eine Pandemie und das Lockdown könne für uns alte Menschen durchaus Vorteile bieten. Denkt dran, nicht jammern, allenfalls still und tapfer leiden. Das weckt Mitleid.

 

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